“Man muss Ängste überwinden und nicht gleich aufgeben.” – Interview mit Mirko Lorenz zum Thema Datenjournalismus

Hallo Mirko, danke, dass du dir die Zeit zum Antworten nimmst. Du hast zusammen mit Nicolas Kayser-Bril den Datawrapper gebastelt – warum brauchte der Datenjournalismus noch ein neues Tool?

Das ergab sich, nachdem wir viel Zeit mit all den bereits vorhandenen Tools verbracht haben. Was fehlte war ein Werkzeug, dass drei wichtige Eigenschaften vereint:

  • Erstens: Es sollte super einfach und produktiv sein. Journalisten wollen und können nicht rumspielen, sie wollen publizieren.
  • Zweitens: Kein Schulterblick. Soll heißen: Fast alle kostenlosen Tools da draußen wollen, dass man dann zumindest laufend das Logo zeigt, die eigenen Daten auf der externen Plattform speichert und so weiter. Google ist ein Spezialfall: Mit Google Fusion und Google Docs liefert das Unternehmen wirklich gute Produkte für Journalisten, gerade dann, wenn es um investigative Daten geht, ist der schwer oder gar nicht zu kontrollierende Umgang mit Datenschutz und Privatsphäre aber problematisch. Beim Datawrapper sollte es eine Möglichkeit geben, die Daten verlässlich und kontrollierbar auf einem eigenen Server zu speichern.
  • Drittens: Das Design sollte sich an eine lokale Tageszeitung oder ein anderes Medium anpassen, ohne Fremdlogos. Das gab es tatsächlich noch nicht. Obwohl das Ding noch sehr in Beta ist, werden wir wohl Ende April auf über 100.000 Pageviews kommen.

Es gibt viele neue Tools zur Datenvisualisierung auf dem Markt, ständig kommen neue hinzu. Im Redaktionsalltag finde ich es schwierig, nicht den Überblick zu verlieren. Kannst du eine Top-5- oder Top-10-Liste mit den deiner Meinung nach besten Tools zur Datenvisualisierung zusammenstellen?

 Bei mir sind es die „magnificent seven“:

  1. Excel (oder Numbers von Apple oder – mit Abstrichen – Google Tabellen.)
  2. Datawrapper als Einstiegstool für rasche Produktivität
  3. Google Refine
  4. Google Fusion Tables
  5. D3/Protovis/Raphael (und andere Visualisierungsbibliotheken)
  6. Kartentool (Open Street Map, TileMill, Kartograph)
  7. CKAN

Mit diesen Ressourcen müsste man 90 Prozent aller denkbaren Projekte zu Wege bringen. D3, Protovis und andere Javascript-Libraries zeigen, was alles möglich ist – das muss man sich sehr genau anschauen. Auch, wenn ich oben gegen Google gemeckert habe: Google Refine ist unproblematisch, weil es die Daten lokal speichert. Und Google Fusion Tables ist im Moment oft unersetzlich. Es wäre schön, wenn Google hier erweiterten Schutz der Daten anbieten würde. CKAN löst ein Problem, dass viele noch nicht als solches wahrnehmen: Eine zentrale, sortierte Speicherung bearbeiteter Datensätze. Daran arbeitet die „Open Knowledge Foundation“.

Wo steht der deutsche Datenjournalismus im internationalen Vergleich?

Die New York Times und der Guardian geben den Takt vor, im Zusammenspiel mit einer größeren Offenheit und Experimentierfreude der Kollegen dort. Sehr interessant ist als Lokal-Experiment die Texas Tribune.  Mehr Support von ihren Bossen hatten die zu Anfang allerdings auch nicht. Deutschland muss sich nicht verstecken, wobei das einem kleinen Häuflein von Leuten zu verdanken ist: Ganz vorne Open Data City, mit Lorenz Matzat, Marco Maas und Michael Kreil. Dann Gregor Aisch, der in punkto Visualisierung und bei der Entwicklung neuer Perspektiven wirklich beeindruckende Arbeit macht. Sehr cool finde ich, wie weit Julius Tröger von der Berliner Morgenpost gekommen ist. Positiv ist auch, dass Sascha Venohr bei Zeit Online und Stefan Plöchinger bei der SZ mit ihren jeweiligen Teams Gas geben, ebenso wie Christina Elmer beim Stern. Es gibt sicher noch weitere, aber das sind die, die ich kenne und von denen ich selbst ständig lerne. Und – das ist keine Schmeichelei – ich bin ehrlich überrascht über die Offenheit und den Vorwärtsdrang bei den RuhrNachrichten. Wenn das so weiter geht, passt das schon.

Du hast letztens getwittert: [blackbirdpie url=”https://twitter.com/#!/mirkolorenz/status/176268468763631616″]

Was meintest du damit?

Damit habe ich gemeint, dass viele Leute nach dem ersten Hype wieder wegbleiben, wenn sich herausstellt, dass das Erlernen einer neuen Technik mit Arbeit und Zeiteinsatz für das Üben verbunden ist. Da fand ich den Vergleich zum Skateboarding passend: Da muss man Ängste überwinden und nicht gleich aufgeben. Man sieht ja, dass es geht und akzeptiert werden am Ende die Steher.  Ich werde in den Journalisten-Seminaren immer ganz am Anfang gefragt: Kann man damit Geld verdienen? Seltsame Haltung, finde ich. Meine Antwort ist meist: So lange du nur Rolle am Boden kannst, wohl eher nicht. Geld gibt es für Salto Mortale oben unter der Zirkuskuppel.

Ich würde mich sehr freuen, wenn viele Journalisten die Herausforderung annehmen. Zugleich weigere ich mich, das so runter zu simplifizieren, dass selbst eher unbewegliche Typen Gefallen daran finden. Ist Arbeit, bleibt auch Arbeit. Ich finde: Schöne Arbeit, aber das will ich niemandem „verkaufen“.

Was könnte in den Redaktionen in Sachen Datenjournalismus besser laufen?

Wir brauchen zwei Dinge: Interesse von Journalisten und Unterstützung durch die Chefs. Es muss Räume geben, um sich Schritt für Schritt an einzigartige Berichtspositionen ranzuarbeiten. Was die New York Times da publiziert, macht man nicht, bloß weil man sich deren Arbeit einmal angeschaut hat.  Journalisten müssen hier von der Konsumenten- in die Macher-Rolle wechseln. Ich finde, der Guardian Data Blog beziehungsweise Simon Rogers und sein wachsendes Teams sind ziemlich clever: Denen kann man so richtig beim Lernen zusehen, die haben sich in das Thema verbissen und machen das Tag für Tag. Beim Guardian bauen sie so ein enormes Know-how auf, die Kosten für die Tools sind interessanterweise gering. Sich der Sache dosiert, aber mit Engagement zu widmen – das könnte anders laufen.

Im Datenjournalismus geht es häufig um Codierung. Da stoße ich im Alltag schnell an meine Grenzen, weil mir das technische Know-How fehlt. Ich verstehe manchmal nicht einmal mehr die Anleitung. Müssen Journalisten codieren können?

Nein, ich finde Journalisten müssen nicht zwingend programmieren können. Sie sollten Daten beschaffen, Daten bewerten und den wesentlichen Punkt finden, der wirklich neue Einblicke, Relationen und Perspektiven bietet.  Andererseits ist das, was man wirklich konkret im Code machen muss, mit Anleitung nicht so schwierig: Häufig tauscht man einige Zeilen aus, das war es schon. Außerdem wird es recht bald Systeme geben, die den Code überdecken – genau wie ein Content Management System. Der Datawrapper – so simpel das Ding auch bisher noch ist – macht ja genau das.

Es ist allerdings wichtig, dass Journalisten verstehen, ob ein geplantes Projekt einfach oder komplex zu programmieren ist. Um ein Bild zu benutzen: Datenjournalismus ist ein Prototyp. Wenn man das mit einem Auto vergleicht, dann kannst du dich nicht hinsetzen, den Schlüssel drehen und dann wütend auf die Hupe hämmern, wenn sich nichts tut. Statt dessen gilt: Aussteigen, Motorhaube auf und mit dem Mechaniker gemeinsam nach dem Problem suchen. Nicht erwarten, dass alles husch-husch geht. Sondern akzeptieren, dass es Schritt für Schritt weiter geht, mit Rückschlägen, Frust, aber auch Perspektiven. Irgendwann kannst du das Meiste selbst. Das kommt aus Gesprächen und gemeinsamen Projekten mit Entwicklern. Das macht Spaß und bringt einen zudem weiter.

Und natürlich ist es nicht verboten, programmieren zu können. Ich kann eine ganze Reihe Journalisten aufzählen, die sich das draufgeschafft haben. Ein Beispiel wäre Burt Herman, der Mitgründer von Storify. Es gibt viele weitere: Journalisten, die coole Sachen gebaut haben, ohne tolle Programmierer zu sein.

Was macht denn einen guten Datenjournalisten aus?

Ein Verständnis dafür, dass uns Politik, Wirtschaft und PR viele Verdrehungen weiter geben oder es auch nicht besser wissen. Ein Drang, die Dinge und Zusammenhänge im harten Licht der Realität zu zeigen. Der Antrieb, der Öffentlichkeit zu zeigen, was eigentlich Sache ist. Zu übersetzen oder deutlich zu machen, wie sich ein lokales, regionales oder weltweites Thema auf den Leser/Nutzer auswirkt. Ich finde, wir akzeptieren alle viel zu oft und schon zu lange, dass zum Beispiel die vielen kleinen und großen Betrügereien um Geld und Perspektiven die Position des Durchschnittsmenschen immer schwieriger machen. Es gibt kein Auto für 99 Euro im Monat und eine Hausfinanzierung mit einer Tilgung von einem Prozent sollte man sich mal aus Sicht der Gesamtkosten ansehen, bevor man unterschreibt. Werbung und PR arbeiten da sehr effektiv, Journalismus sollte dagegen ankämpfen.

Wie kann ich mich als Journalist oder Redakteur fit machen in Sachen Datenjournalismus?

Zuerst braucht es mal ein Erfolgserlebnis, damit aus der grauen Theorie der Möglichkeiten eine persönliche Perspektive wird. Bei den RuhrNachrichten wurde neulich eine traurige Geschichte über ein Rentner-Ehepaar, das einen Doppel-Selbstmord begehen wollte, mit einer Datenreihe über die Zahl der Selbstmorde in Dortmund über mehrere Jahre unterstützt.

Solche Bezüge parat zu haben, das finde ich ist der erste und zugleich der wichtigste Schritt. Einordnen, Kontext liefern, das Muster sichtbar machen – und zwar aus Sicht der Gesellschaft, nicht aus der einer Interessengruppe. Der Rest – die Entschlüsselung der Komplexität, die Klarheit, die Überraschung, die Wahrheit – all das kommt, indem man einfach immer weiter gräbt und hinterfragt.

Was sind die besten Websites, Blogs und Bücher zum Thema Datenjournalismus?

Ich erlebe die internationale Datenjournalismus-Community als positiv, hilfsbereit und geprägt von einem erstaunlichen Enthusiasmus. Meine Tipps: Bei Google (ja, ja –  schon wieder Google) einen Alert einrichten, mit den Stichworten “Daten Journalismus” oder “data-driven journalism”. Da hört man dann recht schnell das Gras wachsen und kriegt mit, was so passiert. Weitere wären: Flowing Data, hier kann man sehen, ob und wie neue Perspektiven entstehen. Dann Visualizing Data von Andy Kirk, der liefert aktuell jeden Monat eine Liste mit Artikeln und Beispielen. In Deutschland: Datenjournalist.de und die Webseite von Gregor Aisch.

Ein weiterer Einstieg wäre, einfach dem Hashtag #ddj (für “data-driven journalism”) bei Twitter folgen. Da ist eine freundliche, internationale Gemeinschaft unterwegs.

Bücher: Meine Empfehlung für das eine Buch, dass man lesen sollte ist Donna M. Wong, “Die perfekte Infografik”. Die Bücher von Edward Tufte und „Information is Beautiful“ von David McCandless (gibt es auch auf Deutsch).

Den Datawrapper habe ich für die Ruhr Nachrichten schon ein paar Mal genutzt. Die Bedienung ist momentan erfreulich einfach und daher eine enorme Erleichterung und Zeitersparnis. Aber die Möglichkeiten sind auch noch begrenzt. Verrätst du mir ein paar Infos aus dem Entwicklerlabor, wie es mit dem Datawrapper weitergeht?

Leichte Bedienung und Zeitersparnis waren bei der Beta-Version das Hauptziel. Wir hätten gern mehr Visualisierungsmöglichkeiten geboten, wollten aber nach knapp zehn Monaten Vorbereitung endlich raus damit. Im nächsten Schritt wollen wir die Qualität der Charts deutlich verbessern und das Tool insgesamt bei Installation auf dem eigenen Server, der Anpassung an das eigene Layout verbessern. Außerdem müssen wir weiter an der Nutzung und an diversen kleineren Bugs arbeiten. Wir – aktuell vor allem Nicolas Kayser-Bril und Gregor Aisch – sind dran. Ich selbst arbeite an Tutorials und will möglichst viele Anwendungsbeispiele aufbereiten. Die nächste Version wird hoffentlich im Sommer oder Anfang Herbst 2012 rauskommen.

Auf der Website von Datawrapper steht “Dieses Angebot ist und bleibt kostenfrei” – Hat Datawrapper ein Geschäftsmodell?

Nein, dank der Unterstützung des ABZV (Bildungswerk der Zeitungen) brauchen wir das nicht. Wir haben enormes Glück und sind sehr dankbar, dass Beate Füth (die Leiterin der Organisation) so früh überzeugt war, welche Potenziale Datenjournalismus bieten kann.

Welche Rolle wird das Thema Datenjournalismus in den nächsten Jahren spielen?

Herrje – am liebsten würde ich mir den Blick in die Glaskugel ersparen – erst einmal müssen wir alle üben, erproben und uns an die stärkere Beachtung von Daten gewöhnen. Langfristig habe ich aber eine Hoffnung: Ich glaube, dass ernsthafter Journalismus vom Markt für Aufmerksamkeit in den Markt für Vertrauen wechseln sollte. Heute ist unser Modell doch so: Wir drucken/senden, das gucken so und so viele Leute, dafür gibt es dann Abos oder Werbeeinnahmen. Dieses über hundert Jahre alte Geschäftsmodell steckt in einer tiefen Krise. Nicht, weil die Leute keine Nachrichten mehr sehen oder gute Inhalte ablehnen, sondern weil es schwierig ist, das angesichts des enormen digitalen Angebots zu finanzieren. Die Hütte brennt, es schmurgelt, qualmt aus vielen Ecken – ab und zu mal löschen hilft da nicht.

Mein Modell für die Zukunft sähe so aus: Wir berichten (meist zuerst im Web), ordnen das ein, liefern es auf allen möglichen Kanälen, und finanzieren das, weil wir aus Sicht der Nutzer wirklich verlässlich, genau und mit konkretem Nutzwert bei vielen Lebensentscheidungen sinnvoll unterstützen. Geld würde dann verdient über journalistisch geprägte, überprüfbar vertrauenswürdige Tools – beim Kauf von Autos, bei der Finanzierung von Häusern, Auswahl von Verträgen für Telekommunikation, Versicherungen, usw. Medien sollten sich aggressiv auf die Seite der Nutzer stellen, nicht die der Werbetreibenden. Wir könnten uns mit cleveren Applikationen viele verlorene Märkte zurück holen. Mit Vergleichsportalen wird heute schon viel Geld verdient, bei vielen würde ich in punkto Vertrauen zumindest vorsichtig sein. Ich beobachte derzeit intensiv Medienunternehmen, aus deren Modellen viele andere vieles lernen könnten. Aber da ist noch alles auf Anfang. Mir ist klar, dass das in einem Absatz nicht erklärbar ist, aber das ist nun mal meine Hoffnung beziehungsweise der Kern dessen, woran ich die nächsten Jahre arbeiten will. Gern auch mit anderen.

Vielen Dank für das Interview!
[alert alert-info]Über Mirko Lorenz

Mirko Lorenz hat vor und während seines Studiums als Journalist für Zeitungen und Magazine gearbeitet. Seit 1995 ist er als freier Journalist, Informationsarchitekt und Trainer tätig. Seit 2008 arbeitet er vor allem für den Bereich Innovationsprojekte bei der Deutschen Welle. Seine Website ist zu finden untehttp://www.mirkolorenz.com.[/alert]

2 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.