Zwei Jahre Nordstadt Dortmund – ein sehr persönlicher Rückblick (Update 1.8.)

“Das sollten Sie nicht tun, davon kann man Ihnen nur abraten! Sind Sie sich wirklich sicher?” So und ähnlich lauteten die Fragen meiner Nachbarn im Dortmunder Klinikviertel, als ich vor gut zwei Jahren meinen Umzug in die berüchtigte Dortmunder Nordstadt ankündigte. Ich hatte neun Jahre im selben Haus gewohnt und mich dort mit mehreren älteren Menschen angefreundet. Sie waren schockiert über meine Entscheidung und warnten mich. Die Nordstadt sei gefährlich, ich alleine wäre dort nicht sicher.

Blick von der Nordstadt
Blick von der Nordstadt aus über Dortmund

Tatsächlich empfand ich auch selbst den Umzug in die Nordstadt als Rückschritt. Ich wollte dort eigentlich nie wohnen, hatte genau die Vorurteile, die mir nun zu Ohr kamen. Doch ich hatte mich gerade selbstständig gemacht und brauchte eine günstigere Wohnung. Für Vermieter war ich als frisch gebackene, allein verdienende Kleinunternehmerin nicht attraktiv. Man wolle mich nicht als Mieterin, weil ich selbstständig sei. Man wisse ja, wie das im Journalismus laufe. Meine Wohnungssuche endete erwartungsgemäß in der Nordstadt.

Ein neuer Blick auf die Stadt

Nach etlichen Besichtigungen in ekelerregenden, verschimmelten und heruntergewohnten Bruchbuden, von denen ich nie gedacht hätte, dass so etwas ernsthaft zur Miete angeboten wird, hatte ich auf den letzten Drücker eine schnuckelige, bezahlbare 1-Zimmer-Wohnung gefunden. Küche im Wohnzimmer, Arbeitsplatz im Schlafzimmer. Ein kleines, aber gemütliches Nest und letzten Endes fühlte ich mich hier wohl. Hier konnte ich mich zurückziehen, hatte ich meistens meine Ruhe, konnte ich arbeiten mit Blick auf Baumkronen, in denen sich Eichelhäher, Spechte und Meisen tummelten. Doch hier lernte ich nach zehn Jahren in der Stadt auch eine neue Seite Dortmunds kennen. Und das schon direkt am Einzugstag.

Eine Umzugshelferin rauchte sich unten vor der Türe eine Zigarette. Und wurde prompt von einem Freier zum Mitgehen eingeladen. Schockiert kam sie wieder hoch. Ein Umzugshelfer wurde einige Stunden später direkt vor der Türe von einer Straßenprostituierten angesprochen. Das erzählte er mir erst viel später, um mich nicht zu verunsichern. Nur wenige Wochen zuvor war in Dortmund der Straßenstrich geschlossen worden. Die Prostitution verlegte sich vor meine Haustür und in die Häuser drumherum. Manchmal mussten die Junkie-Frauen einen Schritt zur Seite gehen, wenn ich zum Feierabend nach Hause kam und in den Hauseingang wollte. Das Haus lag auf der Ecke – perfekter Standpunkt mit Überblick.

Pfiffe für Einlass ins Matratzenlager

In der Zeitung las ich, wenn sich die Polizei nähere, werde gepfiffen, die ganze Straße hoch, damit alle gewarnt wären. Ich hörte oft diese Pfiffe, bevor ein Streifenwagen vorbeifuhr. Nachts hatten Pfiffe und Rufe eine andere Bedeutung: Dann standen die Illegalen vor den Gammelhäusern direkt nebenan und verlangten Einlass ins Matratzenlager. Die Klingeln funktionierten ja nicht. Wegen dieser Rufe konnte ich oft nicht schlafen. Manchmal hörte ich nachts um zwei oder morgens um sechs durch die Wand direkt hinter meinem Bett laute Tüdelü-Musik und viele Männerstimmen. Immer nachts. Tagsüber wurden die Männer unsichtbar oder standen eine Straße weiter auf dem Arbeiterstrich.

Einmal saß ich am Schreibtisch, als drei Stockwerke unter mir aufgeregte Männerstimmen zu hören waren. Und viele knackende Äste. Rufe und schnelle Schritte. Ich schaute hinab und sah Polizisten durchs Gestrüpp jagen. Razzia im Nachbarhaus mit der Tüdelü-Musik. Die Bewohner waren ganz knapp in die Unsichtbarkeit entkommen.

Mit der Stichsäge zum Feuer löschen

Eines Morgens wurde ich um 6 Uhr von starkem Brandgeruch geweckt. Mir war sofort klar, es brennt, nur wo? Bei mir etwa? Ein Blick aus dem Fenster und ich sah aus dem Dachstuhl gegenüber meterhoch die Flammen schlagen. Als ich das Telefon in die Hand nahm, traf die Feuerwehr schon ein. Doch sie kam nicht rein ins Haus: Der Zoll hatte die Haustüre schon vor Monaten mit einem eisernen Rammbock gewaltsam geöffnet, eine Haschischplantage im manchmal von Bulgaren bewohnten, meist aber leerstehenden Haus vernichtet und Türen und die Fenster im Erdgeschoss anschließend mit dicken Spanplatten vernagelt, damit niemand mehr ins Haus kommt. Während die Flammen hoch aus dem Dachfenster schlugen, kam am Eingang eine Stichsäge zum Einsatz.

Das Dach des Hauses stürzte kurz darauf während der Löscharbeiten teilweise auf die Straße und hinterließ ein riesiges Loch, das auch eineinhalb Jahre danach noch immer nicht geflickt ist. Wie lange die Zwischendecke wohl hält? Zwei Illegale holte die Feuerwehr aus dem Haus. Ich sah, wie ein dürrer Mann mit verzweifeltem Blick gestikulierte, er habe nun einmal auch Hunger und wolle irgendwo schlafen. Was aus ihm und der ebenso dürren Frau wohl geworden ist? Nach diesem Vorfall wurden der Eingang, die Fenster im Erdgeschoss und auch die Kellerfenster im Boden erneut vernagelt. Damit dort ja niemand schläft oder isst oder etwas wirklich Illegales tut.

Nicht so genau hinsehen, nicht drüber nachdenken

Ich arbeitete inzwischen frei bei den Ruhr Nachrichten. Hatte die Polizeimeldungen aus der Nordstadt ständig selbst auf dem Schirm und dabei immer sehr gemischte Gefühle. Ich witzelte oft über die Nordstadt und fragte mich, ob das meine Art des Umgangs mit diesem Viertel ist. Es ist eben nicht dasselbe: Über ein Viertel schreiben oder darüber schreiben und dort wohnen. Vor meinem Umzug hatte mir ein anderer Nordstadt-Bewohner gesagt, man dürfe manchmal nicht so genau hinsehen, nicht drüber nachdenken, dann käme man klar. Da ist was dran.

Aber wie nicht abstumpfen, wenn einige hundert Meter von der eigenen Wohnung entfernt eine junge bulgarische Prostituierte von einem Freier schwer verletzt aus dem Fenster geworfen wird, so dass sie ein Pflegefall bleibt? Und man nicht darüber nachdenken soll. Wenn einige hundert Meter in die andere Richtung ein betagter Freier von einem Stricher brutal niedergemetzelt wird, weil Letzterer sich vielleicht notwehren musste? Und man nicht darüber nachdenken soll. Wenn eine halbe Stunde, bevor man selbst die Straße hinunter gegangen ist, dort eine Frau verprügelt und ausgeraubt wird? Und man nicht darüber nachdenken soll. Oder wenn auf dem Nordmarkt, nur ein paar Schritte von der Wohnung entfernt, in einer Pommesschale ein toter Fötus abgelegt wird?

Wieder ein einstürzendes Dach

Im Februar explodierte nur wenige Häuser von meiner Wohnung entfernt vor meiner Nase ein Dachgeschoss. Wieder wurde ich Zeugin, wie ein Dach herabstürzte. Es war Montag, kurz nach halb zehn, und ich war auf dem Weg in die Redaktion. Ich war eine der ersten an der Unglücksstelle, und ich war in den ersten Minuten wie gelähmt. Als wäre ich in einem Film. Ich ging zum Haus und stellte mir vor, dass ich vielleicht Verletzte versorgen müsste und ob ich das hinkriegen würde? Ich hatte Schiss und ich war schockiert und vergaß darüber total, den Notruf zu betätigen. Andere waren da handlungsfähiger. Ich ging zum Haus und dachte “Mist, jetzt komme ich zu spät zur Arbeit.” Ich kam gedanklich nicht hinterher. Manchmal überholt die Nordstadt einen einfach.

Wenige Minuten später schaltete ich um, von Augenzeugin und Nachbarin zur Reporterin. Machte erste Fotos, sprach mit der Feuerwehr und gab die Infos an die Redaktion, die einen Live-Ticker startete. Ich brauchte noch Stunden, um das Gesehene sacken zu lassen. Der Staub, der beim Einsturz des Daches entstand, juckte den Rest des Tages in meinen Augen. Und ich träumte sehr schlecht in der folgenden Nacht.

In den nächsten Tagen stellte sich heraus: Es war wohl ein Selbstmordversuch. Meine Gefühle dem Wohnungsbesitzer gegenüber schlugen binnen weniger Minuten komplett um. Es ist ein Wunder, dass niemand verletzt wurde, als das Dach einstürzte. Einen Tag zuvor bin ich genau zur selben Uhrzeit darunter hergelaufen, weil ich vor der Arbeit noch zur Post musste.

Die Nordstadt haut einem die eigenen Vorurteile um die Ohren

Wie viel Wegsehen muss man, um klar zu kommen, und wie viel Hinsehen muss man, um zu verstehen oder es zumindest zu versuchen? Ich habe mir diese Frage nie richtig beantworten können in den zwei Jahren, die ich in der Nordstadt gewohnt habe. Ich wollte auch vorher schon nie eine von denen werden, für die alles, was so passiert, weit weg ist. An die nichts herankommen kann.

Die Nordstadt hat mir dabei geholfen, das dauerhaft aufrecht zu halten. Sie hat mir meine eigenen Vorurteile um die Ohren gehauen, sie unangenehm bestätigt und am nächsten Tag widerrufen, durch warme, ehrliche, herzliche Begegnungen auf der Straße oder im Supermarkt, die man nirgends sonst in Dortmund in dieser Form findet.

Respekt vor den Menschen im Viertel

Oder durch Einblicke, die mich größten Respekt vor den Menschen in dieser Welt gelehrt haben. Zum Beispiel vor den Kassiererinnen im Supermarkt am Nordmarkt, deren Chef sie des öfteren vor allen Kunden niedermacht und die trotz Ellbogen-Mentalität in der Kassenschlange und offensichtlichen Elends die Nerven behalten und manchmal gute Laune verbreiten, wenn man sie lässt. Vor den Geschäftsleuten in der Nordstadt, egal welcher Nationalität. Vor den Menschen, die sich engagieren, damit die Nordstadt lebenswerter wird. Vor den Café-Betreiberinnen mitten auf dem Nordmarkt. Vor den jungen Menschen, die aus einem anderen Land hierher kommen, unter bescheidenen Verhältnissen in der Nordstadt leben und sehr viel lernen und arbeiten, um sich ein besseres Leben zu ermöglichen – mit ganz klaren Zielen vor Augen. Nachhaltig beeindruckt haben mich solche Nordstadt-Menschen.

Wie auch die älteren Bewohner, die oft seit Jahrzehnten in der Nordstadt leben und auch nicht weg möchten. An die Nordstadt-Seniorinnen mit Einkaufswägelchen habe ich immer gedacht, wenn ich mich dabei erwischte, Angst zu haben. Wovor sollte ich Angst haben, wenn sie durchhalten? Das Unangenehmste, was mir selbst passiert ist, waren die durchdringenden, oft respektlosen Blicke der Männer auf der Straße in der ersten Zeit. Doch trotz aller Horror-Nachrichten aus der Nordstadt ist mir dort nie jemand zu nahe gekommen, habe ich selbst an eigener Haut nie etwas Negatives erlebt.

Kein Fazit

Kann man ein Fazit ziehen aus dem Blick in eine so erbarmungslose, bunte Welt? Ich kann es nicht, möchte es auch nicht. Ich habe sehr gemischte Gefühle, wenn ich an die Nordstadt denke. Mögen andere das Multikulti loben, die Nordstadt als Kreativviertel oder das bodenständigste Viertel der Stadt. Alles ist wahr und doch bin ich froh, nicht mehr dort zu wohnen. Ich habe es für mich als anstrengend empfunden. Aber ich möchte diese Zeit auch nicht missen. Die Nordstadt hält mich mit ihrer Deutlichkeit und Unmittelbarkeit davon ab, zu sehr zu verdrängen, zu vergessen, mich zu distanzieren, aufzugeben – und auch abzuheben.

Update, 1.8.: Dieser Beitrag hat neben den Kommentaren unten noch viele weitere, vor allem positive Reaktionen ausgelöst und ist zudem bei den Ruhr Nachrichten in Dortmund veröffentlicht worden. Einige Reaktionen habe ich in einem weiteren Beitrag gesammelt.

Noch mehr zur Nordstadt

Meine ehemaligen Kollegen der Ruhr Nachrichten haben in der Nordstadt für vier Wochen eine kleine Lokalredaktion eröffnet. Von dort aus berichten sie täglich die guten und die weniger guten Ereignisse aus dem Viertel, gespickt mit einer vorbildlichen hyperlokalen Datenaufbereitung – Lesetipp!

36 Kommentare

  1. Dieses “sehr persönlich” oder besser noch “ganz persönlich” fühlt sich in aller Regel wie eine Worthülse und überhaupt irgendwie unpassend an – hier nicht. Und es zeigt sich letztendlich, dass es eben doch die Menschen sind, die eine Stadt erst lebendig machen – im guten wie im schlechten. Und vielleicht braucht es eine Nordstadt, um Regensburg erst richtig genießen zu können…

    Danke jedenfalls für einen sehr persönlichen und noch dazu sehr lesenswerten Text!

  2. Danke dafür, Stefan! :)

    Nur als Nebenbemerkung: Ich habe das “persönlich” so betont, weil es sicher so viele Sichtweisen auf die Nordstadt gibt, wie die Nordstadt bunt ist. Das hier ist “nur” die Sicht darauf, wie ich sie erlebt habe.

    1. Ihr Lieben !

      Ich wohne, mit Unterbrechungen, knapp 15 Jahre in der Nordstadt, sie ist meine Wahlheimat. Und ich habe es langsam wirklich satt, dass ständig irgendwelche “Weltverbesserer und Gutmenschen”, die nicht mal hier wohnen oder es länger als eine handvoll Tage hier aus halten; ständig meinen, sie müssten die Nordstadt erretten, sie aus ihrem Elend reissen, entkriminalisieren, die Nordstadt umbedingt schöner machen wollen und den ganzen anderen heuchlerischen Schwachsinn, den sie von sich geben, damit sie sich und ein paar anderen, die auf den Schmu reinfallen, glauben machen können, sie seinen sozial engagiert und hilfsbereit…..
      Ist euch mal in den Sinn gekommen, dass es eine Menge Leute gibt, die hier gerne wohnen ??
      Der Wohnungsmarkt ist so frei und so entspannt, niemand muss hier wohnen, der hier nicht wohnen will (oder nicht hergehört) Eine Freundin von mir zog kürzlich von der Westerbleichstrasse nach Brechten und bezahlt jetzt weniger für eine grössere, moderniesierte Wohnung,
      BITTE , BITTE, ihr alle, die ihr gar nicht hier sein wollt oder dieses Fleckchen nicht für seine ganze Brutalität , Vielfalt, Härte, Toleranz und Freundlichkeit liebt und anerkennt, ja noch nicht mal im Stande seid, ihr wahres Wesen zu erkennen, BITTE, BITTE, haut ab, zieht weg, von mir aus nach Brechten oder sonstwohin, wo ihr euch wohler fühlt, kauft euch nen Streber, äh, Schrebergarten und verbessert die Welt woanders.
      Dieser kleine Teil Dortmunds gehört UNS, den Huren und Junkies, Strichern, Gangstern, Schurken und Ganoven, den Künstlern und den Tunichtguten, den Ausländern und Punks und allen, die das auch zu schätzen wissen.

      MEIN VIERTEL BLEIBT DRECKIG !!! findet euch damit ab und sucht euch ein anderes Hobby, die Nordstadt wird für Ihre Freiheit kämpfen und Widerstand leisten, zumindest hoffe ich das.

      dornige Grüsse,

      Verena de Ville

  3. Hm, das erinnert mich ein wenig an einige Stadtteile Münsters, bei denen ich ähnliche Gedanken hätte, angefangen vom “gefühlten” Abstieg etc. Ist schon ein großer Unterschied, das Leben dort nur aus der Außenperspektive (also nur aus Gerüchten oder Nachrichten aus der Zeitung) zu erfahren, oder aus so einer Innenperspektive. Man kann sich mit vielen Dingen arrangieren, aber ob ich mich dort jemals “zu Hause” fühlen würde, weiß ich nicht und das konnte ich auch in Deinem Bericht nicht so ganz herauslesen. Umso mehr wünsch ich Dir, dass Du Dich in Regensburg schon bald richtig “zu Hause” fühlst..

    P.S: Noch was Technisches: Die Galerie öffnet sich bei mir nicht sauber (FF), sondern bei jedem Bild wird man immer wieder an den Anfang des Artikels gesetzt und muss bis zur Galerie scrollen.

    1. Ja, du hast schon Recht. Ich habe mich dort nicht sehr zu Hause gefühlt. In meiner Wohnung, dem Haus, ja. Aber nicht im Allgemeinen. Allerdings ist mir das Gefühl sowieso unbekannt, und das war es auch schon immer. Ich bin selbst gespannt, ob sich das einmal legt eines Tages.

      Das mit der Galerie ist Mist, aber ich weiß nicht, woran es liegt?!

      1. … witzigerweise hatte ich das Gefühl mal in den ersten Jahren in C. Einfach enstpannt irgendwo ankommen, und sich wohlfühlen, ohne Unbehagen oder sonstige Zweifel an der Situation… Ich wünsche Dir auf jeden Fall, dass Regensburg das für Dich wird! Aber da gehört ja nicht nur eine schöne Stadt und eine nette Wohngegend dazu…

        Wg. der Galerie: Womit ist die denn eingebunden? NextGen ist das nicht, oder?

            1. Nach einiger Frickelei und keiner wirklichen Verbesserung als NextGen-Galerie hab ich jetzt ein anderes Plugin benutzt. Funktioniert jetzt wenigstens, obwohl ich die Polaroids bei dem Thema nicht so angemessen finde. Ich weiß aber nicht, woran es bei NextGen liegt. :/

  4. Du hast Recht: das ist in der Tat der “muschelschubsigste” Beitrag, den ich bislang von dir gelesen habe. Er ist anders. Persönlich. Eine Spiegelung zweier sehr bunter Jahre, der mich bewegt zurücklässt, obwohl ich mir nicht einmal im Ansatz vorstellen kann, wie sich diese Zeit vor Ort angefühlt haben könnte.

    Wenn wir uns in drei Wochen sehen, dann drücke ich dich. Weil ich nach diesen Zeilen nicht anders kann. Danke dafür!

  5. Ich wohne selbst seit 1,5 Jahren in der Nordstadt. Dies hat sich halt so ergeben, als ich mit meiner Freundin eine Wohnung suchte, und Bekannte gerade aus ihrer Wohnung auszogen. Ich bin froh über die niedrigen Mietpreise, und wir haben von der Nachbarschaft im Haus selbst nicht das schlechteste Los gezogen. Man hält halt irgendwie zusammen.

    Prägend war für mich der Brand direkt gegenüber am ersten Abend in der damals noch neuen Wohnung.
    Prägend war für mich ebenjener Brand, den du schildertest, wo die Feuerwehr sich den Weg freisägen musste. Der Rauch ist bis zu uns rübergezogen, und weil wir bei offenem Fenster schlafen, habe ich die Erfahrung gemacht, wie es ist, aufzuwachen, und die Wohnung riecht nach Rauch. Schneller wird man wohl nicht wach.
    Prägend waren für mich die Junkies, die sich am hellichten Tag auf der Treppe zur Ubahn den nächsten Schuss fertigmachten, und ich nicht wusste, wie man auf sowas reagiert.
    Prägend war für mich und meine Freundin die Tatsache, dass unser Auto aufgebrochen wurde, und 2 Jungs, die danach die Straße langliefen, alle Nachbarhäuser angeschellt haben, um den Besitzer zu finden, und ihm Bescheid zu geben.
    Prägend war der Anruf von der Polizei. Ob wir denn Pakete erwarten würden, die noch nicht ankamen (es war kurz vor Weihnachten). Ja, die hätte man gefunden. Da hat wohl irgendeine Gestalt die Pakete aus dem kurz unbeobachteten DHL-Laster geklaut.
    Prägend war für uns auch die Tatsache, dass die Junkies es einmal geschafft haben, in unser Treppenhaus zu kommen, und es sich vor der Kellertür bequem gemacht haben.

    Zum sonstigen Milieu kann ich nicht viel sagen. Wir wohnen fast direkt neben dem Schleswiger Platz, und von der Tatsache, dass dort irgendein Straßenstrich ist, bekamen wir bis jetzt nur die dicken Autos mit, die im Viertel umherfahren. Die dort ansässige Alkoholikerszene ist halb so wild. Manchmal hört man nur etwas Geschrei.

    Generell habe ich die Erfahrung gemacht, dass einen die zwielichtigeren Gestalten auch eher in Ruhe lassen, wenn man sie in Ruhe lässt. Lediglich einmal wurde ich auf der Münsterstraße von einem Schwarzen angesprochen, ob ich denn nicht Gras kaufen wollte. Der war aber relativ nett, und hat mich auch in Ruhe gelassen, als ich verneinte. Vermutlich bin ich aufgrund meines Aussehens eher der Zielgruppe zuzuordnen als die Businessleute im Anzug. ;)

    Ich bin ansonsten ziemlich zufrieden mit unserer Wohngegend. Wenn es man an Sommerabenden einfach mal die Optik weglässt, und nur auf die Geräusche achtet, kann man sich fast vorstellen, an irgendeiner südeuropäischen Großstadt im Urlaub zu sein. Und auch sonst schätze ich das reichhaltige Angebot an Dönerläden und sonstigen exotischeren Restaurants auf der Münsterstraße. Und die unzähligen türkischen Bäckereien, bei denen ich aufgrund der niedrigen Preise und der immer äußerst freundlichen Mitarbeiter fast schon lieber einkaufe als bei Dahlmann an der Mallinckrodtstraße.

    Vieles, was man über die Nordstadt, gerade den neu in Dortmund angekommenen Erstsemestern erzählt, driftet fast schon richtung urbane Legende ab. Klar, die Gegend ist dubios, laut, bunt, grell. Aber mit einem eigenen Charme. Ein Kiez halt. Und ich komme mit dem Milieu recht gut zurecht.
    Ich begrüße es, dass die Stadt da ihre Taskforces und Quartiersmeister losschickt, um das ärgste einzudämmen, aber ich würde mich gegen eine umfassende Gentrifizierung des Stadtteils sträuben. Die Nordstadt mit all ihren Schauermärchen gehört ebenso zu Dortmund wie der BVB oder das Bier. Es wäre schade, wenn es sie irgendwann nicht mehr geben würde, oder nur noch in einer völlig sterilen, gentrifizierten Form.

    1. Danke für deine Schilderungen! Ich finde es sehr spannend, andere Sichtweisen “von innen” zu lesen und all die Ähnlichkeiten zu erkennen, aber auch Neues. Wir waren ja fast Nachbarn. :)

      Viele Leute in der Nordstadt brauchen einen Ort wie die Nordstadt. Diese Gratwanderung zwischen “zu wenig” und “zu viel”, “eigener Charme” und “unerträglich”, hinsehen und wegsehen und all den anderen Gegensätzen macht wichtige Entscheidungen sehr schwierig. Es hat gerade in so einer Gegend alles mindestens zwei Seiten.

  6. Ich mag solche Berichte, danke. Ich denke, solche Orte sind vor allem für Frauen nicht einfach zu bewohnen.

    Vor Jahren habe ich in Zürich in einem Rotlichtviertel (Langstrasse) in einer IT-Bude gearbeitet und habe ähnliche Szenen gesehen. Ich war damals wirklich froh, nicht dort wohnen zu müssen, sondern nur zu arbeiten. Als ich einmal das Gebäude verlassen wollte, um nach Hause zu gehen sah ich durch die Glastüre, durch das man das Gebäude verlässt, einen Junkie, der sich eine Linie zog. Er hatte das Pulver auf einem Stück Zeitungspapier. Als er mit der Linie fertig war, fiel das Papier einfach zu Boden. Danach torkelte er weg und ich konnte durch die Türe gehen. Sowas lässt einem nicht mehr los. Ich habe das nur einmal gesehen, Junkies an den Strassenecken aber unzählige. Auch Alkoholiker und Prostituierte. Anfänglich wurde ich von den Prostituierten angesprochen, dann aber kannten sie mich und liessen sie mich in Ruhe.

    Ich bin froh, nicht mehr in einer solchen Gegend zu arbeiten. Heute ist das Quartier erheblich besser geworden und wenn ich einmal durch diese Gegend muss, werden Erinnerungen wach.

  7. Früher hatte man Schimanski oder Marius Müller-Westernhagen in ihren Serien und frühen Kinofilmen bewundert und deren in den Brennpunkten der Ruhrgebietsstädte angesiedelte Figuren und das Milieu als “hart, aber herzlich”, “echt”, “mitten in die Fresse, aber wichtig” usw. bezeichnet. Heute vergleicht man das gleiche Milieu nur noch mit eingefrorenen Touristen-Hochburgen ala Regensburg oder dem Münsterland. Herzlichen Glückwunsch zu soviel Leben…

    1. Ich kann dem Kommentar nicht ganz folgen. Wer vergleicht denn die Dortmunder Nordstadt mit Regensburg oder dem Münsterland? Ich jedenfalls nicht und ich wüsste auch nicht, was das sollte. Dass ich ursprünglich aus dem Münsterland komme und jetzt nach Regensburg gezogen bin, hat mit der Nordstadt nun überhaupt nichts zu tun.

      1. Ich habe auch nicht von *Dir* geschrieben, sondern mich auf Kommentare von “Stefan Evertz” und “spinpoint” bezogen. Der Eindruck, die Nordstadt wäre eine Art OuterSpace- oder Paralleluniversums-Erfahrung mit der ultimativen Hoffnung des baldigen (Wieder-)Wegzugs, wird ja auch in unserer unglückseligen, zombieartigen (WR aka RN) Lokalpresse vermittelt oder von angeblichen “Künstlern” wie einer briefeschreibenden Barbara Meisner als Marketing benutzt. Dabei lebte und lebt die Nordstadt von Menschen, die *nicht* bereits nach zwei Jahren aufgeben.

        1. Nur kurz der Hinweis: Ich habe nicht “bereits nach zwei Jahren aufgegeben”, sondern eine berufliche Chance genutzt, von der im Artikel nichts stand, weil es nichts mit der Nordstadt zu tun hat. Sein Leben 600 km entfernt komplett neu zu starten ist sicher kein Aufgeben.

  8. [ska: Kommentar und Link gelöscht, weil außer Fäkaliensprache und einer in einem Songtext verpackten Drohung bedauerlicherweise nichts drin enthalten war.]

  9. Entschuldigung, ich hab es nicht persönlich gemeint !
    Die Aneinanderreihung der schlimmen Sachen, ein Bewerbungsgespräch für die BILD Zeitung.
    Also ich versuch mal als Nordstadtbewohner es andersherum zu erklären.
    New York, Paris, Buenos Aires, Mexico City, Rom, London, Nordstadt.
    Willkommen in der Gegenwart – oder ?
    bitte kümmert euch um eure Stadt. Ehemaliges Ostwallmuseum z.b.
    https://www.openpetition.de/petition/online/rettet-das-dortmunder-museumsgebaeude-am-ostwall
    und ansonsten willkommen in der Metropole Ruhrgebiet.
    Denkt Positiv ! Jammert nicht, Tut was! Bitte.

  10. Ganz toller Artikel, vielen Dank dafür.
    Ich hätte noch stundenlang weiterlesen können, so bin ich in den Zeilen versunken.
    Vielleicht gibt es ja noch die ein oder andere Anekdote die Du in Deiner Nordstadt oder generell der Zeit in Dortmund erlebt hast irgendwann einmal zu lesen. Schade das ein Mensch der so toll die Umgebung und Erlebnisse in seiner Stadt schildern kann nicht mehr hier lebt um uns mit weiteren Eindrücken zu versorgen.

    Eins bleibt aber irgendwie hängen: Ich finde das am Ende – auch in den Kommentaren die Zustände und unangenehmen Erlebnisse irgendwie schon fast ins romantische gezogen werden. Die meisten würden doch sagen “einmal und nie wieder” oder es erst gar nicht ins Auge fassen in so eine Gegend zu ziehen. Würdest Du es noch einmal tun, noch einmal in die Nordstadt ziehen?

    Viele Grüße und alles Gute!

    1. Herzlichen Dank für diesen schönen Kommentar! :)

      Deine Frage finde ich schwer zu beantworten. Jeder muss für sich selbst entscheiden, was er möchte und wo er sich wohlfühlt. Letzteres ist vielleicht gar keine Entscheidung, sondern ergibt sich einfach. Ob ich mich irgendwo wohl fühle oder nicht, hängt ja von noch viel mehr Dingen ab als dem Wohnort selbst oder dem Umfeld. Für mich hat in der Nordstadt-Phase vieles nicht gepasst im Leben. Deshalb bin ich froh, dass diese Phase vorbei ist. Das hat aber nur bedingt mit dem Viertel zu tun. Ohne die Zeit in der Nordstadt wäre meine Selbstständigkeit nämlich auch noch schwieriger bis unmöglich umzusetzen gewesen und ich habe aus der Nordstadt für mich auch viel mitgenommen. Ich möchte kein Leben im geistigen Wattebausch und diese Zeit hat mir dabei geholfen, mich daran zu erinnern. Und das finde ich gut. Es gibt also offenbar für alles eine richtige Zeit.

      Viele Grüße zurück!

  11. Das mit der Nordstadt ist schon erbärmlich. Steigende Kriminalität und diese heruntergekommenen Problemhäuser. Traurig, dass die Politik da nichts unternimmt. Solche Verhältnisse in Deutschland. Ein Armutszeugnis! Es war ein großer Fehler, die Grenzen zu öffnen. Da kommen noch mal ganz schlimme Zeiten auf uns zu!

  12. eine sehr interessanter Blog bin zufällig drauf gestoßen vieles ist auch für mich Persönlich als Dortmunder sehr zutreffend.

    [Edit ska: Link entfernt wegen Werbung]

  13. Besten Dank für Ihren “Rückblick” auf die Dortmunder Nordstadt. Treffender kann man das Leben in diesen chaotischen bis anarchischen Stadtteil gar nicht beschreiben als in diesem Artikel. Man muß schon hier gelebt haben, um die Faszination dieses Stadtteils verstehen zu können. Als ich 1986 von Düsseldorf-Oberkassel in die Nordstadt gezogen bin, da war das für mich anfangs wie ein riesiger “Kulturschock”. Aber schon längst ist die Nordstadt zu “meinem Kiez” geworden! Hier bin ich zuhause und hier fühle ich mich wohl. Auch wenn es einem die Nordstadt manchmal recht schwer macht. Aber ich glaube an sie!

    Mein Foto-Set: “My home town – Die Dortmunder Nordstadt – 2013” (Part 1)
    http://free-world-blog.tumblr.com/post/51265116540/foto-set-my-home-town-die-dortmunder-nordstadt

    Foto-Set: “My home town – Die Dortmunder Nordstadt – 2013” (Part 2)
    http://free-world-blog.tumblr.com/post/51503148560/foto-set-my-home-town-die-dortmunder

    Foto-Set: “My home town – Die Dortmunder Nordstadt – 2013” (Part 3)
    http://free-world-blog.tumblr.com/post/51840642815/foto-set-my-home-town-die-dortmunder-nordstadt

  14. Danke für den sehr guten Beitrag, interessant wäre es noch, wie es sich seit dem letzen jahr geändert hat, ob Sie was bestimmtes bemekrt haben oder ob alles gleich geblieben ist. Zudem ist noch die guten Fast Food läden in der Nordstadt zu erwähnen :-)

    [Edit ska: Link entfernt wegen Werbung]

  15. Sehr Schöner Beitrag, ich wollte es erst nur überfliegen aber es hat mich gerissen so das ich es ganz lesen musste.

    [Edit ska: Link entfernt wegen Werbung]

  16. Interessant was du alles so erlebst! Ich wohne in einer kleinen Stadt auf dem Land mit ein paar Tausend Einwohnern und möchte in naher Zukunft auch in eine Großstadt ziehen. Leider reicht mir das Geld noch nicht…;)

    [Edit ska: Link entfernt wg. Werbung]

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